Mittwoch, 7. Juli 2010

Bücherwand: Roberto Bolaño, 2666

Der Urlaub kommt - und mit ihm die Muße für Groß-Romane. „2666“ steht nicht für die Zahl der Seiten des Werks (1096), sondern transportiert die „Teufelszahl“ 666 ins Jahrtausend. Denn teuflisch geht es zu in Santa Teresa in Mexiko, wo eine wenig bis gar nicht aufgeklärte Mordserie an Hunderten Frauen die Einwohner verstört.

Realer Kern des Romans ist eine ähnliche Mordserie in Ciudad Jurarez. Ansonsten geht es bei „2666“ um den fiktiven deutschen Schriftsteller Benno von Archimboldi und die Suche nach ihm, um Literaturwissenschaft, Liebesaffären, das Verlagsgeschäft, Drogenkartelle, Black Muslims, den zweiten Weltkrieg, Journalismus, Boxen, die oberen Zehntausend und die unteren Millionen, Wahnsinn und Methode. Bolaño webt fünf Teile zu einem Ganzen zusammen, dessen Fäden ineinander übergehen, ohne ein klares Muster zu ergeben. Ist Archimboldi der Mörder? Gibt es ihn überhaupt?

Schillernde Details, Handlungsstränge, die angedeutet, aber nicht zu Ende erzählt werden, was den Rezensenten dennoch nicht verstimmt - zu bunt sind die Geschichten, zu phantasievoll die Erzählweise. Kein Buch, das man kaum aus der Hand legen kann. Aber eines, das man am nächsten Tag mit Vorfreude wieder in die Hand nimmt.

„2666“ ist posthum erschienen; der Autor, gebürtiger Chilene, starb 2003 in Spanien an einer schweren Krankheit.

Freitag, 16. April 2010

Bücherwand: Eriq Qualman, Socialnomics

Eriq Qualman, Socialnomics, Wie Social Media Wirtschaft und Gesellschaft verändern.

„It‘s a people-driven economy, stupid!“. Qualman, Jahrgang 72, ist zu alt, um noch als Digital Native durchzugehen. Um so größer ist seine Begeisterung für die Möglichkeiten des Mitmach-Webs. Das liest sich über weite Strecken nicht nur griffig, sondern auch mitreißend. Er stellt dar, wie das Web 2.0 die Gegenwart und die Zukunft prägt - für Bürger, Politiker,
Unternehmer, alle. Qualman zeigt, wie Unternehmen von der Meinung ihrer Kunden direkt profitieren und was dabei schiefgehen kann: Social Media belohnen vorbildliches Verhalten und bestrafen Fehler. Er gibt Tipps für Blogs, Twitter und Facebook. Missionarisch wird Qualman auch: „Als Einzelperson müssen Sie leben, als ob Ihre Mutter zuschaut; denn wahrscheinlich
tut sie das.“ Soziale Netzwerke seien mächtig genug, um auf einer Makroebene Änderungen des persönlichen und unternehmerischen Verhaltens durchzusetzen. Web 2.0 rettet die Welt? Halleluja.

Montag, 8. März 2010

Oh Twitter, where are thou. Zu viel Smalltalk macht unglücklich.

"What do you have there? Popcorn? Yummy!"

Wer zu viele Konversationen dieser Art führt, neigt zum Unglücklichsein. Das belegen Psychologen der Universität von Arizona in einer aktuellen Studie.

Die Forscher wollten herausfinden, worin sich die Gespräche glücklicher von denen unglücklicher Menschen unterscheiden. Zu diesem Behufe haben sie 79 Studenten, äh, Studierenden (47 weiblich, 32 männlich) einen Recorder umgehängt. Der Rekorder hat alle zwölfeinhalb Minuten 30 Sekunden Gespräch mitgeschnitten, und das vier Tage lang. Die über 23.000 Schnipsel haben die arizonesischen Forscher dann danach untersucht, ob die Probanden allein oder in Gesellschaft waren und ob substanzielle Themen oder eher Triviales besprochen wurde. Außerdem haben die Wissenschaftler die Studienteilnehmer befragt, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sind.

Das Ergebnis: Wer viele tiefsinnige Gespräche führt und weniger Zeit für Small Talk verwendet, ist zufriedener. Die glücklichsten im Vergleich zu den unglücklichsten Teilnehmer waren ein Viertel weniger allein, haben zwei Drittel mehr Zeit für Gespräche verwendet - und die Gespräche waren dann doppelt so oft "ernsthaft."

Zu unterschiedlichen Redezeiten von Männern und Frauen scheint die Studie allerdings nichts zu sagen.

Was mir noch besonders aufgefallen ist: ein Abschnitt zur Finanzierung und der hübsche Satz: "The authors declared that they had no conflicts of interest with respect to their authorship or the publication of this article." Beides stände auch hiesigen Studien, Meinungsumfragen, Leitartikeln ausgesprochen gut.

Zur Studie geht es hier.

Dienstag, 2. März 2010

Fernsehwerbung: Je weniger man hinguckt, desto erfolgreicher ist sie.

Klingt paradox? Immerhin haben das Paradoxon Forscher der Universität Bath aufgestellt.

Sie haben mittels Eye-Tracking gemessen, wie Probanden auf Werbung unterschiedlichen emotionalen Gehalts reagieren. Eingebettet war die Werbung in eine Sitcom; den Versuchspersonen war dabei unklar, dass die Werbewirkung gemessen wird.

Der Versuch brachte Erstaunliches zutage: Bei emotionalen, netten, "kreativen" Spots waren die Zuschauer unaufmerksamer als bei sachlich-informativen. Und jetzt kommt´s: Die emotionalen waren trotzdem erfolgreicher. Bisher hatte emotionale Werbung auch als besonders "aufmerksamkeitsstark" gegolten.

Research-Leiter Robert Heath: "Es gibt jede Menge Untersuchungen, die belegen, dass kreative Werbung erfolgreicher ist als solche, die lediglich Infos vermittelt - und immer wurde angenommen, das sei, weil die Zuschauer ihr mehr Aufmerksamkeit zollen... Aber in einer entspannten Atmosphäre wie beim Fernsehen wird Aufmerksamkeit eher als ein Verteidigungsmechanismus eingesetzt. Bombardiert ein Spot uns mit neuen Infos, besteht unsere natürliche Reaktion in Aufmerksamkeit, um Gegenargumente zu finden." Gefalle dagegen ein Spot und der Zuschauer möge ihn, tendiere er zu mehr Vertrauen und habe nicht das Gefühl, besonders aufmerksam sein zu müssen.

Eine der Schlussfolgerungen:"Dies hat ersthafte Auswirkungen auf bestimmte Kategorien der Spots, insbesondere bei Spots für Produkte, die schädlich für unsere Gesundheit sein könnten, und bei Produkten, die für Kinder bestimmt sind."

Bei amüsanter Kettensägen-Werbung dürfte also besondere Obacht geboten sein.

Besonders erstaunlich finde ich allerdings, dass im Zeitalter von Festplattenrecordern und Downloads überhaupt noch jemand Werbung schaut.

Freitag, 5. Februar 2010

Kommunikation macht schön.

Noch ein knapper Monat bis zur CeBIT. Und jede CeBIT ist nur ein Anfang. Die Zukunft verlässt die Messehallen und bricht bald auch bei Ihnen ein, vermutlich über die ungesicherte Terrassentür. Blicken Sie zum Fenster, morgenleuchtet sie dort nicht schon? Nein, nicht das Windows-Flimmern, ausnahmsweise ist das reale Fenster gemeint.

Total versorgt
Wenn endlich jeder mit allen und allem vernetzt ist, wird das Leben zum Rundum-Sorglos-Paket. Einkaufen gehen ist unnötig, weil Ihr Kühlschrank genau registriert, wenn das Lieblingsbier zur Neige geht und automatisch eine Bestellung auslöst. Natürlich konnten Sie vorher programmieren, ob Sie auf Schnelligkeit oder auf Preisvorteile Wert legen. Wenn es rasch gehen soll, kommt die Lieferung aus dem benachbarten 50 Kilometer entfernten Super-Store innerhalb von zwei Stunden. Wenn es vor allem billig sein soll, hat sich Ihr Kühlschrank schon vor drei Monaten ins Internet eingeloggt, um für Sie bei der Aktion Je-mehr-bestellen-desto-kostenloser-wird´s.com abzusahnen, äh, -bieren. Obwohl, bei Kaffeesahne haben auch schon 23.452 Kühlschrank-User („friggies“) vorbestellt. Natürlich versucht die eHealth-Software Ihres Hausarztes, die Bierlieferung unter Hinweis auf die angegriffene Leber zu sabotieren, aber zum einen funktioniert die Schnittstelle nicht richtig und zum anderen heißt es ja nicht umsonst E-Kommerz. Dass Sie gerade Ihren Totenschein zugemailt bekamen, weil Sie den Kühlschrank drei Tage nicht benutzt hatten, ist kein Programmfehler, sondern nur ein Alptraum.

Total verliebt
Auch Ihr Liebesleben wird künftig noch glücklicher. Wenn Sie die Geheimratsecken Ihres Partners stören („Kriegst Du wirklich schon ´ne Platte?!“), setzen Sie seinem Kopf einfach eine Schein-Oberfläche auf, den Virtual Head. So können Sie künftig in dichtbehaartes Vlies einer Farbe und Länge Ihrer Wahl atmen. Gleichzeitig lassen Sie sein Antlitz sich der von einem amerikanischen Gesichtschirurgen ermittelten Idealproportion von 1:1,6 nähern. Oder wenn Sie die Pfunde Ihrer Partnerin nerven („Wozu haben ich Dir zu Weihnachten denn den Gutschein fürs Fitness-Studio geschenkt?!“): Einfach Ihre persönlichen Ideal-Maße 90-60-80 in das Programm eingeben und der Virtual Body steht. Eine aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes zwingend vorgeschriebene Filterfunktion verhindert dabei, dass Sie gleich die Nachbarin einprogrammieren, mit der Sie schon immer mal... Damit das Selbstwertgefühl Ihrer Partnerin nicht leidet, kann sie sich auf eine virtuelle Wage stellen, während der Chip in ihrem Ohr Schmeicheleinheiten lädt: „Du bist schön. Du bist begehrenswert. Du bist gut drauf.“ Tschakka.

Total billig
All diese kommunikativen Herrlichkeiten kosten nur ein Zweitausendstel Ihres Monatsgehalts, das Sie sich mit 15-Stunden-Wochen am Tele-Heimarbeitsplatz gleich neben Ihrem Bett verdienen. Den Rest der Woche widmen Sie Ausflügen in Zeit und Raum. Durch die multimediale Wand Ihrer Wohnung betreten Sie das alte Ägypten oder Sie hören in Athen Sokrates zu und überprüfen, ob seine Frau Xanthippe wirklich so zänkisch war. Scheint so, was aber auch daran liegen kann, dass die Darstellerin eine zwangsumgeschulte Operettensängerin ist. Immerhin: Interaktion.

Total verschlafen

Bis es endlich soweit ist, müssen Sie allerdings weiter fluchen, weil der Festplattenrecorder statt „Reich werden in der Krise mit Web2.0“ wieder nur den Sandmann aufgenommen hat.